Friday, January 1, 2010

Wichtige Bücher II

Hier einige Leseproben aus drei inspirierenden Büchern:


Edurado Galeano: Das Buch der Umarmungen

MANCHMAL ERKENNE ICH MICH IN DEN
ANDEREN. ICH ERKENNE MICH IN DENEN,
DIE BLEIBEN WERDEN, IN DEN FREUNDEN,
DIE MICH BESCHÜTZEN, DEN VERRÜCKTEN,
DIE MICH BERÜCKEN, DEN SCHMETTER-
LINGEN, DIE KEINEN BEDRÜCKEN, UND
IN DEN ÜBRIGEN TAGTRÄUMERN UND
HERUMTREIBERN, DIE SIND UND DIE SEIN
WERDEN, SO WIE AUCH DIE STERNE AM
HIMMEL SEIN WERDEN UND DIE WELLEN
DES MEERES. DANN, WENN ICH MICH IN
IHNEN ERKENNE, BIN ICH LUFT UND
LERNE, IM WIND FORTZUBESTEHEN.
WENN ICH NICHT MEHR BIN, WIRD DER
WIND NOCH SEIN, WIRD WEITER SEIN.

SIEGER BLIEB WER SICH VON ALLEM TRENNTE.

EIN MENSCH MIT FLÜGELN FLIEGT LIEBER NACHTS.

RECHT UND FREIHEIT SIND DAZU VERURTEILT EINANDER ZU HASSEN.

ER DURFTE IN DEN HIMMEL FAHREN UND KAM ZURÜCK UND SAGTE ER HABE VON DORT OBEN DAS LEBEN DER MENSCHEN BETRACHTET. "DAS IST DIE WELT.", SAGTE ER. "EIN HAUFEN LEUTE, EIN MEER KLEINER LICHTER." JEDER MENSCH LEUCHTET MIT EIGENEM LICHT. MAN FINDET KEINE ZWEI LICHTER, DIE GLEICH SIND. DA GIBT ES GROSSE LICHTER UND KLEINE LICHTER UND LICHTER IN ALLEN FARBEN. DA SIND LEUTE MIT EINEM RUHIGEN LICHT, DAS KEIN WINDSTOSS ZUM FLACKERN BRINGT, UND SOLCHE MIT LICHTERN, DIE WIE VERRÜCKT FUNKEN SPRÜHEN. LICHTER GIBT ES, ALBERNE LICHTER, DIE WEDER SCHEINEN NOCH WÄRMEN; ABER ANDERE BRINGEN DAS LEBEN MIT SOLCHER INBRUNST ZUM GLÜHEN, DASS MAN SIE GAR NICHT ANSEHEN KANN, OHNE STÄNDIG MIT DEN WIMPERN ZU ZUCKEN, UND WER IHNEN ZU NAHE KOMMT, FÄNGT FEUER.

ES TRÄUMEN DIE FLÖHE, DASS SIE SICH EINES TAGES EINEN
HUND KAUFEN KÖNNEN, UND ES TRÄUMEN DIE NICHTSE, DASS
SIE EINES TAGES DIE ARMUT ABSCHÜTTELN, DASS SIE EINES
TAGES IM GLÜCKSREGEN STEHEN; DOCH DAS GLÜCK REGNET
WEDER GESTERN NOCH HEUTE NOCH MORGEN, SO SEHR ES SICH
DIE NICHTSE AUCH WÜNSCHEN, NIE REGNET ES, OBWOHL SIE
TÄGLICH VOR SCHERBEN STEHEN UND MIT DEM RECHTEN FUSS
AUFSTEHEN UND DAS NEUE JAHR MIT EINEM NEUEN BESEN
BEGINNEN. DIE NICHTSE: DIE NIEMANDSKINDER, DIE
NICHTSHABER. DIE NICHTSE: DIE KEINEN, DIE VERNIEMAN-
DETEN, DIE HASENFÜSSE, DIE LEBENSKRANKEN, DIE VERDAMMTEN,
DIE ZWEIMAL VERDAMMTEN: DIE NICHT SIND, AUCH WENN SIE
WÄREN. DIE NICHT SPRACHEN, SONDERN DIALEKTE SPRECHEN.
DIE NICHT RELIGIONEN, SONDERN ABERGLAUBEN ANHÄNGEN.
DIE NICHT KUNST, SONDERN KUNSTHANDWERK MACHEN. DIE
NICHT KULTUR, SONDERN FOLKLORE VERBREITEN. DIE NICHT
MENSCHEN, SONDERN MENSCHENMATERIAL SIND. DIE NICHT
GESICHTER, SONDERN ARME HABEN. DIE NICHT NAMEN,
SONDERN NUMMERN TRAGEN. DIE NICHT GROSSE GESCHICHTE,
SONDERN KLEINE EINGABEN SCHREIBEN. DIE NICHTSE,
BILLIGER ALS DIE KUGEL, DIE SIE TÖTET.

EIN SYSTEM DER VEREINZELUNG: DAMIT DIE SCHWEIGSAMEN
NICHT ZU FRAGEN BEGINNEN, DAMIT DIE BEWUSSTLOSEN
NICHT ZU BEWUSSTSEIN KOMMEN, DAMIT DIE EINSAMEN
SICH NICHT ZUSAMMENTUN, DAMIT DIE SEELE NICHT IHRE
SCHERBEN ZUSAMMENLIEST.
DAS SYSTEM TRENNT GEFÜHL UND GEDANKEN EBENSO, WIE
ES SEX UND LIEBE TRENNT, PRIVATLEBEN UND ÖFFENT-
LICHES LEBEN, VERGANGENHEIT UND GEGENWART. WENN
DIE VERGANGENHEIT DER GEGENWART NICHTS ZU SAGEN
HAT, KANN DIE GESCHICHTE WEITERSCHLUMMERN, OHNE
ZU STÖREN, IM SCHRANK, IN DEM DAS SYSTEM SEINE
ALTEN MASKEN AUFBEWAHRT.
DAS SYSTEM LÖSCHT UNSER GEDÄCHTNIS, ODER ES FÜLLT
DAS GEDÄCHTNIS MIT MÜLL, UND SO ZWINGT ES UNS,
GESCHICHTE ZU WIEDERHOLEN STATT GESCHICHTE ZU
MACHEN. DIE TRAGÖDIEN WIEDERHOLEN SICH ALS FARCE,
HEISST ES. ABER BEI UNS IST ES SCHLIMMER: DIE
TRAGÖDIEN WIEDERHOLEN SICH ALS TRAGÖDIEN.

WO IM ALTEN TESTAMENT GESCHRIEBEN STEHT, WAS
GESCHRIEBEN WURDE, SOLLTE BESSER STEHEN, WAS
MIR VIELLEICHT DER HELD DES BUCHES GEBEICHTET
HAT: SCHADE, DAS ADAM SO BLÖD WAR. SCHADE, DAS EVA
SO TAUB WAR. UND SCHADE, DASS ICH MICH NICHT
VERSTÄNDLICH MACHEN KONNTE.
ADAM UND EVA WAREN DIE ERSTEN MENSCHEN, DIE
VON MEINER HAND GESCHAFFEN WURDEN, UND ICH
MUSS GESTEHEN, DASS SIE GEWISSE MÄNGEL IN
STRUKTUR, AUSFÜHRUNG UND ABSCHLUSS AUFWIESEN.
IHNEN FEHLTE JEDE VORAUSSETZUNG ZUM ZUHÖREN UND
NACHDENKEN. UND ICH..NAJA, VIELLEICHT FEHLTE
MIR JEDE VORAUSSETZUNG ZUM REDEN. VOR ADAM
UND EVA HATTE ICH MICH MIT NIEMANDEM UNTERHALTEN
KÖNNEN. ICH HATTE SCHON SÄTZE VON MIR GEGEBEN,
WIE:"ES WERDE LICHT", ABER EBEN IMMER ALLEIN.
DESHALB WAR ICH AN DEM TAG, WO ICH ZUR STUNDE
DES ABENDWINDES ADAM UND EVA TRAF, AUCH NICHT
SEHR BEREDT. MIR FEHLTE ES AN ÜBUNG.
ZUERST STAUNTE ICH BLOSS. SIE HATTEN GERADE
DIE FRUCHT VOM VERBOTENEN BAUM GESTOHLEN, DER
MITTEN IM PARADIES STAND. ADAM MACHTE EIN GESICHT
WIE EIN GENERAL, DER EBEN SEINEN DEGEN
ÜBERGEBEN HAT, UND EVA STARRTE ZU BODEN, ALS
WÜRDE SIE AMEISEN ZÄHLEN. ABER BEIDE WAREN
UNGLAUBLICH JUNG UND VON STRAHLENDER SCHÖNHEIT.
SIE ÜBERRASCHTEN MICH. ICH HATTE SIE GESCHAFFEN;¨
ABER ICH WUSSTE NICHT, DASS LEHM AUCH LEUCHTEN
KANN. DANN, ICH GESTEHE ES, STIEG NEID IN MIR HOCH.
DA MIR KEINER BEFEHLE ERTEILEN KANN, IST MIR
DIE WÜRDE DES UNGEHORSAMS UNBEKANNT. ICH VERMAG
AUCH NICHT DIE FREUDEN DER LIEBE ZU ERKENNEN,
DIE IMMER ZWEI VERLANGT. UM DEM AUTORITÄTSPRINZIP
GENÜGE ZU TUN, UNTERDRÜCKTE ICH MEINEN WUNSCH,
SIE ZU BEGLÜCKWÜNSCHEN, WEIL SIE PLÖTZLICH DIE
WEISHEIT MENSCHLICHER LEIDENSCHAFT ERWORBEN
HATTEN. DAMIT BEGANNEN DIE MISSVERSTÄNDNISSE, SIE
VERSTANDEN "FALL", WO ICH VOM FLIEGEN SPRACH.
SIE GLAUBTEN, EINE SÜNDE MÜSSE BESTRAFT
WERDEN, SO SIE ERBLICH IST. ICH SAGTE, DASS
SÜNDIGE, WER NICHT LIEBE. SIE VERSTANDEN,
DASS SÜNDIGE, WER LIEBE. WO ICH EINE FESTWIESE
VORAUSSAGTE, VERSTANDEN SIE: JAMMERTAL. ICH
SAGTE, SCHMERZ SEI DAS SALZ, DAS DEM MENSCHLICHEN
ABENTEUER ERST DIE RICHTIGE WÜRZE GEBE; SIE
HINGEGEN GLAUBTEN, ICH WÜRDE SIE VERURTEILEN,
ALS ICH IHNEN DAS VORRECHT VERLIEH, STERBLICH
UND VERRÜCKT ZU SEIN. SIE VERSTANDEN ALLES
VERKEHRT; UND GLAUBTEN ES AUCH NOCH.
IN LETZTER ZEIT LEIDE ICH AN SCHLAFLOSIGKEIT.
SEIT EIN PAAR JAHRTAUSENDEN SCHLAFE ICH
SCHWER EIN. DABEI SCHLAFE ICH GERN, SEHR GERN,
DENN WENN ICH SCHLAFE, TRÄUME ICH. DANN BIN
ICH LIEBENDER ODER LIEBENDE, VERZEHRE MICH
IN KURZEN FEUERN FLÜCHTIGER LEIDENSCHAFTEN,
BIN WANDELNDER NARR, FISCHER AUF HOHER SEE
ODER ZIGEUNERIN, DIE AUS DEM KAFFESATZ DIE
ZUKUNFT LIEST; VOM VERBOTENEN BAUM VERSCHLINGE
ICH SOGAR DIE BLÄTTER UND TRINKE UND TANZE
BIS ZUR ERSCHÖPFUNG..
WENN ICH ERWACHE, BIN ICH ALLEIN. ICH HABE
NIEMANDEN ZUM SPIELEN, DENN DIE ENGEL NEHMEN
MICH VIEL ZU ERNST, NIEMAND AUCH, DEN ICH
BEGEHREN KÖNNTE. ICH BIN DAZU VERURTEILT,
MICH SELBST ZU BEGEHREN. VON STERN ZU STERN
IRRE ICH, ZU TODE GELANGWEILT IM LEEREN
WELTALL. HUNDEMÜDE FÜHLE ICH MICH, UND SEHR
ALLEIN. ICH BIN ALLEIN, ICH BIN EINSAM,
JETZT UND IN ALLER EWIGKEIT.

Aus dunkler Brandung gärend
Des Lebens bunter Braus
Und drüber immerwährend
Der Sterne hochgewölbtes Haus.
Mein Leben ist versunken,
Ich schweb am Weltenrand
Und atme tief und trunken
Der Feuerlüfte süßen Brand.
Und der ich kaum entronnen,
Des Lebens Zauberglut
Spült mich mit tausend Wonnen
Aufs neue in die große Flut.


Martin Page: Antoine oder die Idiotie

Er beneidete sie um alles, was sie nicht wussten.

Er empfand sich selbst nicht als Dieb, dazu fehlte ihm die notwendige Leichtigkeit, und ausserdem nahm er ja nur was er brauchte: einen Klecks Shampoo unauffällig in eine kleine Bonbondose gedrückt. Mit Zahnpasta macht er es ebenso, auch mit Seife, Rasierschaum, Rosinen und Kirschen. Und weil er kein Geld hatte, um sich alle Bücher zu kaufen, die er gerne gehabt hätte, und weil er die Aufmerksamkeit des Wachpersonals beobachtet hatte, stahl er die Bücher Seite für Seite und fügte sie dann im Schutz seiner eigenen vier Wände wieder zusammen, wie ein im Untergrund tätiger Verleger. Jede Seite, durch ein Verbrechen erworben, erlangte so einen wesentlich höheren symbolischen Wert.

Schon immer hatte er den Eindruck, steinalt zu sein. Als er sieben war, fühlte er sich ausgelaugt wie ein Mann von neunundvierzig. Mit elf hatte er bereits alle Enttäuschungen eines Greises von siebenundsiebzig erlebt. Jetzt, mit fünfundzwanzig und in der Hoffnung auf ein etwas angenehmeres Leben, entschloss er sich, das Leichentuch der Idiotie über sein Haupt zu werfen. Allzuoft hatte er feststellen müssen, dass das Wort Intelligenz wohlkonstruierte, fröhlich herausgeplärrte Dummheiten beschreibt und derart missbräuchlich eingesetzt wird, das es oft vorteilhafter ist, als Idiot rumzulaufen, denn als vereidigter Intellektueller. Intelligenz macht unglücklich, einsam und arm, während die blosse Maske der Intelligenz einem Menschen die Unsterblichkeit zumindest auf Zeitungspapier einbringt und womöglich noch die Bewunderung derer, die an das glauben, was sie lesen.

Er hatte die ganze Nacht hindurch geschrieben. In einem grossen Schulheft hatte er nach zahlreichen tastenden Versuchen, nach seitenlangen Entwürfen sein Manifest endlich in eine Form bringen können. Zuvor hatte er im Schweisse seines Angesichts wochenlang einen Ausweg gesucht, überzeugende Ausflüchte. Doch letzten Endes hatte er sich die schreckliche Wahrheit eingestehen müssen: Die Ursache seines Unglücks war sein eigener Verstand.

Als er realisierte, wie leicht und unbekümmert gegenüber der Realität das Denken betrunkener Menschen war, wie gern sich ihre Rede in Zusammenhangslosigkeit verlor und dass sich diese Menschen überdies der Illusion hingaben, die grossartigsten Wahrheiten zu verkünden, fasste er den Entschluss, sich dieser vielversprechenden Philosophie anzuschliessen. Der Rausch schien ihm das ideale Mittel zur Unterbindung jeder Anwandlung von Reflexion. Im Rausch brauchte er nicht mehr nachzudenken, konnte es auch nicht mehr: Er würde ein Rhetoriker des lyrischen Geschwafels werden, wortgewandt und zungenfertig. Klugheit würde im Suff keinen Sinn mehr haben, mit ihren gelockerten Haltetauen konnte sie Schiffbruch erleiden oder von Haien aufgefressen werden, ohne dass er sich Sorgen machen müsste. Ob grundloses Lachen, absurde Ausrufe - im Rauschzustand würde er die ganze Welt lieben, ja hemmungslos sein. Er hatte fest vor Alkoholiker zu werden. Das beschäftigt. Der Alkohol bestimmt das ganze Denken. Er würde eine von der Gesellschaft anerkannte Krankheit haben. Niemand denkt daran die intelligenten Menschen zu bemitleiden: "Er analysiert das Verhalten seiner Umwelt, das muss ihn doch ziemlich unglücklich machen", "Irgendwann hatte ich wirklich Angst das du intelligent wirst." Das ist nur ein kleiner Ausschnitt von wohlwollenden Bemerkungen voller Mitleid, auf die intelligente Menschen Anspruch hätten, wenn es mit der Welt gerecht zuginge.

Ich bin arm, ohne jede Zukunft.. Und vor allem denke ich zuviel, ich muss permanent analysieren und zu verstehen versuchen, wie dieser Laden funktioniert. Es macht mich furchtbar traurig zu sehen, dass wir nicht frei sind und dass jeder freie Gedanke, jede freie Tat nur auf Kosten einer Verletzung möglich ist, die nicht verheilt. Ich habe nicht mehr die Kraft, ich selbst zu sein, nicht mehr den Mut, nicht mehr die Lust, so etwas wie eine Persönlichkeit zu haben. Das ist ein Luxus, der mir zu teuer ist. Ich will ein banales Gespenst werden. Ich bin es satt, Gedankenfreiheit zu haben, Wissen zu besitzen, mit meinem verdammten Bewusstsein herumzuspringen.

Im Grunde bin ich so wenig fürs Leben geschaffen, dass ich mich möglicherweise erst im Tod verwirkliche. Ich habe ganz fraglos mehr Fähigkeiten zum Sterben als zum Leben. Es ist besser zu sterben, solange uns das Leben noch nicht alles genommen hat. Es gibt gegenüber dem Selbstmord eine Zensur. Eine politische, religiöse, soziale, ja sogar eine natürliche, denn die Natur, diese hohe Dame, mag es gar nicht, wenn man sich ihr gegenüber Freiheiten herausnimmt, sie will uns bis zum Ende an der Leine halten, sie will für uns entscheiden. Wer entscheidet denn über den Tod der Menschen? Wir haben diese höchste Freiheit an Krankheiten, an Unfälle, an Verbrechen delegiert. Man nennt das Zufall. Aber das ist falsch. Dieser Zufall ist der subtile Wille der Gesellschaft, die uns peu à peu mit Umweltverschmutzung vergiftet, uns durch Kriege und Unfälle massakriert.. Die Gesellschaft entscheidet auch über das Datum unseres Todes durch die Qualität unserer Nahrung, die Gefahren unserer täglichen Umwelt und auch durch die Arbeits- und Lebensbedingungen, denen wir unterliegen.

Die Intelligenz ist eine Sackgasse der Evolution. Neugierig sein, Natur und Menschen verstehen wollen, die Künste entdecken, das müsste unser aller Ziel und Streben sein. Doch wenn dem so wäre, würde die Welt bei der gegenwärtigen Organisation der Arbeit aufhören sich zu drehen, und zwar einfach deshalb, weil das Zeit braucht und eine kritische Geisteshaltung entwickelt. Keiner würde mehr arbeiten. Meine vermeintliche Klugheit, die allzu unabhängig ist, dient nichts und niemandem. Ich trage den Fluch des Verstandes mit mir herum. Ich bin arm, ledig, deprimiert. Seit Monaten denke ich über meine Krankheit des zu vielen Nachdenkens nach und habe die Wechselbeziehung zwischen meinem Unglücklich sein und der Inkontinenz meines Verstandes zweifelsfrei festgestellt. All die Denkerei hat mir noch nie etwas eingebracht, sondern sich meistens gegen mich gewandt. Nachdenken ist kein natürlicher Vorgang, es verletzt, als ob es in die Luft gemischte Glasscherben und Widerhaken zum Vorschein brächte. Ich kann meinen Geist nicht zur Ruhe bringen, seinen Rythmus verlangsamen. Alles, was ich sehe, fühle, höre, wird in den Ofen meines Hirns geschaufelt, reisst es mit und treibt es zu Höchstleistungen an. Jeder Verstehensversuch ist gesellschaftlicher Selbstmord, er bedeutet, das Leben nicht mehr geniessen zu können. Wer sein Wissen vermehrt, vermehrt sein Schmerz. Selig die Armen im Geiste. In der Natur ist Bewusstsein die Ausnahme. Mann kann sogar postulieren, dass sie ein Unfall ist, weil sie keinerlei Überlegenheit garantiert, nicht einmal ein besonders langes Leben.


Roberto Saviano: Gomorrha

Jemand der das Leben als einen Raum versteht in dem alles zu gewinnen ist, auch auf die Gefahr hin alles zu verlieren. Begreifen bedeutet irgendwie beteiligt zu sein. Anders kann man die Dinge nicht verstehen. Aus einer Position der Neutralität oder der ojektiven Distanz heraus habe ich nie etwas herausgefunden. Ich nahm einen undefinierbaren Geruch an mir wahr. Du merkst allmählich, dass du ihn längst in dir hattest, als käme er von einer Drüse, die bisher nie angeregt worden war, einer schlummernden Pore, die plötzlich diesen Geruch absondert, ausgelöst nicht so sehr von Angst, sondern von der Ahnung der Wahrheit. Als ob irgend etwas in deinem Körper dir ein Zeichen gäbe, dass du vor der Wahrheit stehst. Sie mit allen Sinnen wahrnimmst. Unvermittelt. Keine Wahrheit aus zweiter Hand, berichtet und abgelichtet, sondern klar und deutlich vor dir. Verstehen, wie die Dinge laufen, wie die Gegenwart funktioniert.

Einen Ort, an dem man noch über die Kraft des Wortes nachdenken konnte, ohne sich schämen zu müssen. Darüber wie man über die Wahrheit berichtet, allein mit dem scharfen Instrument der Schrift. Ich schlug eine Bresche in das Gestrüpp der Worte, um jene Sätze zu finden, die klar und deutlich ausgesprochen, auch jetzt noch ihre Kraft entfalten können. Mir fehlt die geistige Trägheit derer, die glauben, das Wort habe seine Kraft längst verloren. Das Wort, das sich begreifen liess wie kompakte Materie, deren Energie den Lauf der Dinge verändern kann. Ich weiss, und ich habe Beweise. Also erzähle ich. Ich kenne das Fundament, auf dem die Wirtschaft ruht. Ich weiss, woher das Geld kommt, Und die Wahrheit, wird sie ausgesprochen, macht keine Gefangenen, denn sie reisst alles mit sich fort und macht aus allem einen Beweis. Die Wahrheit registriert, vergleicht, sieht hin, hört hin. Die Beweise sind unwiderlegbar, denn sie sind parteiisch, gesehen mit eigenen Augen, erzählt mit Worten und gehärtet in Gefühlen, gegen die Kugeln und Knüppel nichts ausrichten können. Ich beobachte und rede, und so lege ich Zeugnis ab - ein unschönes Wort, das um so mehr Gültigkeit besitzt, wenn es demjenigen, der dem Sirenengesang der Macht lauscht, ins Ohr flüstert: "Gaub nicht, was man dir sagt." Die Wahrheit ist parteiisch. Könnte man sie auf eine objektive Formel reduzieren, wäre sie synthetisch.

Wenn ich durch die Strassen gehe oder ein Geschäft betrete, nehme ich sie immer wahr, diese Abgründe. Denn ich weiss. Und es ist geradezu krankhaft. Im Kreis der besten und erfolgreichsten Unternehmern wird mir übel. Ich kenne die wahre politische Verfasssung meiner Zeit: sie ist der unternehmerische Reichtum. Jeder Pfeiler eines jeden Hause wurde mit dem Blut von Menschen gebaut. Jede Ware hat einen dunklen Ursprung.

Der Prophet ist der Wächter: er sieht die Ungerechtigkeit, prangert sie an und verweist auf den ursprünglichen Plan der Evolution. Der Prophet erinnert an die Vergangenheit und beruft sich auf sie, um im Gegenwärtigen das Neue zu erkennen. Der Prophet fordert auf, Solidarität im Leiden zu üben, wie er es selbst tut.

Sie zermürben dich langsam, aber stetig, Jeden Tag ziehen sie dich ein bisschen mehr aus, bis du splitternackt dastehst, mutterseelenallein, und glaubst, du kämpfst gegen eine Chimäre, ein Hirngespinst, das nur in deinem Kopf existiert. Du fängst an, den Verleumdungen zu glauben, die dich als einen Versager hinstellen - als einen, der sich mit denen anlegt, die es zu was gebracht haben. Sie spielen mit dir Mikado. Nehmen alle Holzstäbchen weg, ohne dich auch nur zu berühren, so dass du am Ende ganz allein bist und vor Einsamkeit schier verrückt wirst. Gerade aus dieser Einsamkeit heraus wächst so etwas wie Mut, der einen schützt wie eine Rüstung, auch wenn man sich dessen vielleicht gar nicht bewusst ist. Mach weiter. Tu was du tun musst. Mobilisiere deine ganze Kraft. Du musst dein Kraftquell finden, das dich innerlich stärkt, um weitermachen zu können. Nicht nur einen Notanker, sondern eine Wurzel, tief in der Erde verwachsen und unangreifbar. In diesem aussichtslosen Kampf, gibt es etwas, das du unbedingt bewahren und festhalten musst. Und du musst dir sicher sein, dass es durch dein an Wahnsinn grenzendes Engagement noch stärker wird. Diese tief eingewurzelte Kraft erkenne ich inzwischen im Blick derjenigen, die wie ich entschlossen sind, bestimmten Mächten ins Auge zu blicken.

Ich fragte mich, ob ein Mensch die innere Kraft aufbringen kann, sich einer derartigen Machtmaschinerie entgegenzustemmen. Ob es möglich war, etwas zu tun, irgend etwas, um sich dem Kreislauf des Geschäftemachens zu entziehen, sich zu retten und ausser Reichweite dieser Dynamiken der Macht zu leben. Ich zerbrach mir den Kopf, ob es möglich war, die Mechanismen zu verstehen, sie zu entlarven und zu durchschauen, ohne von ihnen zerrieben zu werden. Vielleicht musste man sich entscheiden: entweder zu wissen und damit kompromittiert zu sein oder nicht zu wissen und unbeschwert zu leben. Vielleicht blieb einem gar nichts anderes übrig, als zu vergessen und die Augen zu verschliessen: die amtliche Version der Sachverhalte zur Kenntnis zu nehmen, aber auch das nur zerstreut, und es bei einem Lamento zu belassen. Ich frage mich, ob es trotz allem möglich war, ein glückliches Leben zu führen, oder ob es nicht besser wäre, sich gleich in den Kampf zu stürzen, ein Schnellfeuergewehr im Gürtel, einzusteigen ins Big Business, ins wirkliche Big Business, anstatt den anarchischen Traum von einem selbstbestimmten Leben weiterzuträumen. Ob ich nicht lieber Teil des Netzwerks meiner Zeit werden und alles auf eine Karte setzen sollte. Befehle erteilen und Befehle empfangen - ein Profitgeier, ein Raubtier des Kapitals, ein Samurai der Mächtigen. Ob ich nicht lieber das Leben als Schlachtfeld begreifen sollte, auf dem man nicht überleben, sondern nur den Tod finden konnte, nachdem man Befehle gegeben und Kämpfe geführt hat.

Der Widerstand gegen die Mächtigen wird zum Überlebenskampf, als könnte die eigene Existenz allein, das Essen, das man zu sich nimmt, der Mund, den man küsst, die Musik, die man hört, die Bücher, die man liest, dem Leben keinen Sinn mehr geben. Als läge der Sinn des Lebens einzig und allein im Überleben. Wissen, Verstehen und Ergründen ist daher nicht bloss eine moralische Pflicht, es ist eine Überlebensfrage. Ohne diese Selbstverantwortung ist kein menschenwürdiges Dasein möglich.

Manchmal muss man seinen Delirien nachgeben, man hat keine Wahl. man muss sich ihnen überlassen, fertig und aus. Ich wollte schreien, mir die Lunge aus dem Leib brüllen, aus Leibeskräften, mit allem, was meine Kehle hergab: "Ihr verfluchten Dreckskerle, ich lebe noch!"

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